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Von Antje Mayer.

Ein Tag im Leben der ungarischen Radiojournalistin Anna Lengyel

Zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort

Es gibt diese Tage im Leben, an denen man das Gefühl hat, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Der 23. Oktober 2006 war so ein Tag und die Stadt Budapest so ein Ort.

Jeder politischen Aktion lässt sich ein symbolisch wichtiges Gebäude zuordnen. Das des Ungarischen Radios (Magyar Radio) in der Budapester Brodý-Straße hinter dem Nationalmuseum ist so eines.

Vor 50 Jahren, am 23. Oktober 1956, ist diese Straße voller wütender Demonstranten, vornehmlich Studenten und Jugendliche, die in das Radiohaus eindringen wollen, um dort ihre Forderung verlesen zu können: „Abzug der russischen Truppen! Ein Ende der kommunistischen Diktatur!“

Die Ordnungskräfte, die vor Ort zusammengezogen werden, zögern nicht lange und schießen wahllos in die Demonstrantenmenge. Daraufhin stürmt die Masse wütend das Gebäude und schießt mit eilig besorgten Gewehren zurück. Ab diesem Zeitpunkt entwickelt sich der bis dahin friedliche Aufstand zu einem gewaltsamen. In den Morgenstunden des nächsten Tages rollen die ersten Panzer der sowjetischen Armee über die Boulevards der Stadt. Es folgen Wochen des erbitterten Straßenkampfes zwischen Soldaten und den Freiheitskämpfern, Tausende Tote, letztlich die Niederschlagung der Revolution und 32 Jahre repressives Regime unter Staatschef János Kádár. „Budapest 56“ wird – in Ost und in West – zum Symbol des Kampfes gegen das kommunistische Regime.

23. Oktober 2006: An diesem strahlend schönen Morgen bin ich mit der Grande Dame des ungarischen Radios Anna Lengyel in ebenjenem legendären Hauptgebäude des Magyar Radios verabredet, in dem die Revolution ihren Anfang nahm. Man fürchtet heute, am 50. Jahrestag des Aufstandes, an dem man eigentlich den Mut der Bürger feiern will, paradoxerweise wieder die Wut des ungarischen Volkes. Die Wut jener Unzufriedenen, die in den vergangenen Wochen gegen den ungarischen „Lügenreden-Ministerpräsidenten“ Ferenc Gyurcsány aufbegehrten, die Wut der sogenannten „Oppositionellen“, die Wut all jener, die ihn bei den Parlamentswahlen im April 2006 nicht gewählt haben, also knapp die Hälfte der Ungarn.

Als ich ankomme, sind die Türen und Fenster des Radiogebäudes verrammelt, die Fenster im Erdgeschoß sogar mit Eisenplatten verschraubt. Ein Spalier von bewaffneten Polizisten sichert die Eingänge. Wer ins Rundfunkgebäude will, braucht eine Sondererlaubnis. Meine besteht in der Person Anna Lengyels, die mich beredt durch die Sicherheitsschleusen lost. Sie ist Ende 50, trägt kurzes, schwarzes Haar, ist dezent geschminkt, eine Frau, die dem Alter charmant entgegenschreitet. Schon zu kommunistischen Zeiten war sie Radiojournalistin, nach 1990 sogar richtig populär, erfolgreich war sie dennoch nie: „Ich war nie angepasst genug. Ich gehörte nicht der Partei an und ich ließ mich nicht von ihr vereinnahmen. Man akzeptierte das, aber ich muss mich im Grunde bis heute damit abfinden, dass ich in den drei Jahrzehnten, die ich mittlerweile beim Magyar Radio (beim Sender „Kossuth“, Anm. d. Red.) arbeite, auf der Karriereleiter nie aufstieg. Auch nach der Wende nicht. Ich habe drei Universitätsabschlüsse, viele meiner Chefs hingegen nicht einmal Abitur, und trotzdem lebe ich immer noch in einer Zweizimmerwohnung in einem Plattenbau.“

Sie erzählt das in ihrer überaus liebenswürdigen Art, mit stetem Lächeln auf den Lippen. Ein bisschen zu eingeübt wirkt es, wenn sie von dieser Kränkung spricht. Lengyel hat in den langen Jahren des Kommunismus gelernt, lieber nicht zu zeigen, was sie fühlt, nicht das direkt zu sagen, was sie denkt. Es hätte sie den Job kosten können oder Jahre im Gefängnis für sie bedeutet. Einmal hatte sie es dennoch gewagt zu sagen, was sie sich dachte. Das war 1985. Genau genommen hatte sie nur das Falsche gefragt. Sie sollte für die Sendung „Haus des Jahres“ recherchieren. Man schickte sie in ein für damalige Zeiten ungewöhnlich teuer ausgestattetes Haus in Budapest. Sie erkundigte sich bei den Besitzern, woher das Geld dafür komme. Das hätte sie lieber nicht tun sollen. Wenig später wurde sie gefeuert. Der zuständige Redakteur, der Superintendent, der Außenredakteur, der Programmleiter und der sechsköpfige Ausschuss, all jene Zensurorgane, denen damals ein Beitrag erst vorgespielt werden musste, bis er überhaupt gesendet werden durfte, warfen ihr vor, fachlich inkompetent zu arbeiten. „Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und ging vor das Arbeitsgericht“, erinnert sich Lengyel. „Mit Erfolg. Ich konnte alle Vorwürfe widerlegen. Neun Monate später kehrte ich zum Radio zurück. Die Leute, die mich damals angeschwärzt hatten, sitzen heute übrigens wieder in einflussreichen Positionen. Einer von ihnen ausgerechnet in der ultrakonservativen MIÉP, der ‚Partei der Gerechtigkeit und des Lebens‘.“ Das sei das große Problem in Ungarn heute, erzählt die Radiojournalistin, dass es durch die friedliche Wende im Jahr 1989 nie eine radikale gesellschaftliche Erneuerung gegeben habe. In allen Positionen, von den Universitäten über die Medien und Kulturinstitutionen bis hin zur Politik, sitzen noch die alten Kommunisten.

Sie zeigt mir kurz den Hof des Radiogebäudes. „Ich erinnere mich, dass hier am Jahrestag der Revolution immer ein ‚Genosse Politiker‘ auf einem roten Teppich stand, im Schlepptau mit einer Witwe, die ihren Soldatensohn anno 1956 verloren hatte. Viel Aufhebens wurde aber eher nicht veranstaltet, wohl, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Nach der obligatorischen Kranzniederlegung, der tränenreichen Trauerrede für die sowjetischen Gefallenen und der scharfen Anklage gegenüber den Freiheitskämpfern war der Genosse dann meist auch schnell wieder verschwunden“, erinnert sich Lengyel.

Wir fahren mit dem Aufzug in den Newsroom des Kanals „Kossuth“. Leitender Redakteur ist an diesem 23. Oktober ein smarter junger Mann. Anfang 30 ist er und hat bereits einen besser dotierten Job als Lengyel in ihrer gesamten Laufbahn. Seine Mitarbeiterin schneidet gerade die Nachrichten für die halbstündlichen Tagesmeldungen zusammen: Ein Ungar sei in der Slowakei wegen seiner Nationalität attackiert worden. Sonst das Übliche. Nein, Live-Berichte über zu erwartende Ausschreitungen anlässlich des 50. Jahrestages der Revolution plane man nicht. Die offiziellen Feierlichkeiten der Regierung stünden im Mittelpunkt. Anna Lengyel flüstert mir ins Ohr: „Ich bin enttäuscht, ich dachte, ich kann was produzieren. Der wird schon noch sehen: Wenn die ersten ausländischen Gäste auf dem Flughafen sind, wird die Gewalt ausbrechen.“

Die ersten Berichte lassen denn auch nicht lange auf sich warten. Der zentrale Kossuth-Platz sei für die Bevölkerung nun doch gesperrt worden, Demonstranten würden in der Nähe des Parlaments skandieren. Es kommt zu erstem gewaltsamen Aufeinandertreffen von Polizisten und Bürgern. Tränengas, Wasserwerfer, Gummigeschoße. Erste Verletzte. Sogar von einem Toten wird berichtet, dann wieder dementiert. Die Lage gerät aus den Fugen.

Ob man denn keinen Journalisten vor Ort schicken wolle, frage ich, um von der aktuellen Lage zu berichten. Nein, schüttelt der leitende Redakteur den Kopf. Ich müsse verstehen, so etwas sei schwer für ein Radio, das von der Regierung finanziert wird. Über dem Eingang flimmern vier Bildschirme: Das staatliche Fernsehen MTV (Magyar Televizió) zeigt eine alte Schwarzweiß-Dokumentation über die Ereignisse von 1956, CNN hetzt durchs Weltgeschehen, selbst das als liberal geltende Duna TV bringt einen Kostümfilm, allein der britische Sender BBC sendet live von den Demonstrationen. Zensur? Ungarn ist seit Mai 2004 immerhin Mitglied der EU, hat sich demokratischen Grundsätzen verpflichtet, errege ich mich. Man könne doch angesichts der Lage nicht einfach Friede, Freude, Eierkuchen vorspielen. „Man versucht, sich mit der Regierung zu arrangieren“, zieht mich Lengyel am Ärmel in das Rauchereck auf dem Flur. „Zensur ist ein großes Wort, nennen wir es eher ‚leben und leben lassen‘.“

Gleich um die Ecke des Funkhauses, am Oktogon-Platz, formiert sich mittlerweile eine friedliche Kundgebung, angeführt von dem Oppositionspolitiker Viktor Orbán (Fidesz, Bund junger Demokraten). Es ist dies im Grunde die einzige größere, offen zugängliche Veranstaltung des Tages, an dem die Budapester den 50. Jahrestag für sich feiern dürfen. Anna Lengyel und ich beschließen dort hinzugehen. Ob sie denn wenigstens darüber für das Radio berichten könne, frage ich. Nein, sie werde nur privat daran teilnehmen, lautet die Antwort.

Als wir uns dem Platz nähern, haben sich bereits mehrere Zehntausend mit Plakaten dort versammelt. Später werden die internationalen Medien davon berichten, dass „sich Ungarn auch im Gedenken (an 1956, Anm. d. Red.) gespalten“ zeige und es sich um „eine Kundgebung der Nationalkonservativen“ gehandelt habe („Tagesschau“, ARD, am 23. 10. 2006, 20 Uhr). In der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ und der „Süddeutschen Zeitung“ (vom 24. 10. 2006) wird diese Kundgebung nicht einmal erwähnt, man berichtet dort vielmehr von gewaltbereiten „Rechtsradikalen“. Die „Süddeutsche Zeitung“ zitiert Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány, der in einem im Fernsehen ausgestrahlten Interview das harte Vorgehen der Polizei verteidigt: „Wir haben es mit dem Angriff einer Minderheit auf die Rechte der Mehrheit zu tun.“

Aber Lengyel und ich machen an diesem Tag auf dieser Kundgebung eher bunt gemischtes Volk aus, das offensichtlich spontan den Weg zum Oktogon-Platz gefunden hat. Ihre Reaktionen auf Orbáns Rede ist verhalten. Fanatische Anhänger seiner bürgerlichen Partei sind es offensichtlich nicht, friedliche Budapester eher, die gemeinsam 1956 gedenken und bestenfalls ihrer Unzufriedenheit mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage zum Ausdruck bringen wollen. Parteipolitisch scheint hier kaum jemand motiviert. Man sieht vereinzelt Nationalisten in ungarischer Tracht, jedoch mehr junge Menschen, Studenten, zahlreiche Mittelschichtfamilien mit kleinen Kindern, Künstler, Intellektuelle, Pensionisten. Man kennt Anna Lengyel, alle paar Meter wird ihr die Hand geschüttelt. Sie stellt mich Tivadar Tullassay vor, dem Rektor der Medizinischen Universität in Budapest. Ich drücke die Hand von István Kovács, dem ehemaligen Botschafter in Polen, Schriftsteller und Autor eines Buches über 1956. Ein Mitglied des Komitees des ungarischen Schriftstellerverbandes streckt mir ein kopiertes Blatt entgegen, eine Erklärung, in der dazu aufgefordert wird, nicht so brutal gegen die Demonstranten vorzugehen. „Berichten Sie, Frau Journalistin, berichten Sie im Ausland, wie es uns in Ungarn in diesen Tagen ergeht!“, ruft der Zettelmann mir noch hinterher. Wenn es die Ungarn nicht einmal selbst zuwege bringen …, denke ich bei mir.

Meine Überlegungen werden jäh durch einen aufgeregt gestikulierenden Mann gestört, der von der anderen Seite des Oktogon-Platzes gekommen sein muss. Seine Jacke ist durchnässt und weist seltsame blaue Flecken auf. Ein alter sowjetischer Panzer aus dem Budapester „Terror-Museum“ in der Andrássy-Straße sei von Demonstranten entwendet worden, stößt er hervor. Seine Augen sind rot vom Tränengas. „Es befand sich noch Benzin im Tank. Die fahren den jetzt durch die Straßen von Budapest. Die Polizisten drehen durch und reiten mit Pferden einfach in die Menge. Selbst friedliche Passanten, Mütter mit Kindern sogar, werden von den Ordnungskräften brutal in die Nebenstraße gedrängt. Die Randalierer sind mit blauer Farbe regelrecht markiert worden.“ Später erfährt man, dass ein Demonstrant durch die Gummigeschoße erblindet ist.

Wir beschließen, aus Sicherheitsgründen lieber wieder ins Rundfunkhaus zurückzukehren. Auf dem Weg dorthin gesteht mir Anna Lengyel, dass für sie persönlich Rebellion immer bedeutet habe, ihren Stolz zu bewahren und den Menschen, denen sie bisher begegnet ist, auch heute ins Gesicht sehen zu können. Wie hat sie das geschafft? Lengyel hebt den Finger: „Erstens glaube ich an Gott. Und zweitens: Bis zum Staatspräsidenten kennt und ehrt man mich, denn ich habe als Journalistin nie gelogen und bin den Dingen immer auf den Grund gegangen. Ich war eine Facharbeiterin auf hohem Niveau.“

Als wir das Rundfunkhaus betreten, kommt uns der technische Leiter des Radios auf dem Gang entgegen. Er ist eigens aus dem langen Wochenende früher zum Dienst erschienen. Im Fall, dass das Gebäude gestürmt wird, muss er dafür Sorge tragen, dass man weiter notsenden kann. Der Newsroom hat sich inzwischen gefüllt, es herrscht große Aufregung. Ein Dutzend Journalisten telefoniert und tippt aufgeregt. Mittlerweile hat das „Magyar Radio“ endlich doch von den Demonstrationen berichtet. Der leitende Redakteur will, dass Lengyel umgehend Politikermeinungen über die Geschehnisse des Tages einholt. Anna Lengyel legt nicht einmal ab, sondern greift sofort zum Hörer. Ich sehe, wie ihre Augen vor Freude strahlen, und verabschiede mich in diese unruhige Budapester Nacht.



Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Jänner 2007
> Link: REPORT online > Link: Hungarian Revolution 1956- > Link: Magyar Rádió online-